Türkische Medien attackieren Deutschland
Der Fall des 17-jährigen Marco W., der in der Türkei ein minderjähriges Mädchen verführt haben soll, schaukelt sich zum deutsch-türkischen Politikum hoch. Während deutsche Politiker der Türkei unmenschliche Haftbedingungen vorwerfen, fahren in der Türkei viele Medien eine Kampagne gegen Deutschland. Unser Autor berichtet aus Istanbul.
Die Berichterstattung der deutschen wie der türkischen Medien zum Fall des inhaftierten Jugendlichen Marco W. mutet erstaunlich gleichförmig an. Fast alle deutschen Zeitungen schreiben dasselbe, die türkischen schreiben auch alle im Gleichschritt. Nur mit entgegengesetztem Schwerpunkt. Der Fall Marco ist bei ihnen nicht ein Beispiel türkischer Rückständigkeit und unbarmherziger, kafkaesker Justiz, sondern ein Beispiel für deutsche Arroganz, Ahnungslosigkeit und Unverfrorenheit.
Was die Tatsachen des Falles betrifft, so muss man der Zeitung "Hürriyet" zugestehen, von allen Medien, ob nun in Deutschland oder in der Türkei, die besten Recherchen geleistet zu haben. "Hürriyet" berichtete früh, dass es zwischen Marco und der 13-jährigen Britin nicht um einen “Flirt” gegangen war, wie zunächst in allen deutschen Medien geschrieben, sondern um vollzogenen Sex, und das Spermien an dem Mädchen gefunden wurden. Ebenfalls "Hürriyet" brachte das erste Interview mit Marco, in dem er bestätigte, dass es zum allerdings etwas verunglückten Geschlechtsverkehr gekommen sei, den allerdings das Mädchen gefordert habe.
Das Interview kam durch Einsatz der gesamten Marktmacht und Beziehungsdichte der Redaktionsleitung zustande – der Justizminister wurde ebenso eingeschaltet wie der Gefängnisdirektor, der auch mit Marco sprach – als dieser zusagte, das Gefängnis und die Haftbedingungen nicht verzerrt negativ darzustellen, wurde das Interview genehmigt.
"Die Deutschen sind Besserwisser"
Aus der Marco-Story ist in der Türkei längst eine Geschichte über die besserwisserischen, fingerschwenkenden Deutschen geworden, denen es nicht um die Wahrheit geht, sondern darum, die Türkei fertig zu machen. Das Schlüsselwort heißt “Midnight Express” – ein Film über das Schicksal eines jungen Amerikaners in türkischen Gefängnissen der siebziger Jahre. Der Film, der das Image einer folternden, homosexuellen, sadistischen und gnadenlos polizeistaatlichen Türkei vermittelte, hatte freilich kaum etwas mit der erlebten Realität des Mannes zu tun, dessen Geschichte der Film erzählte. Er reiste vor wenigen Wochen eigens in die Türkei, um sich für den entstandenen Image-Schaden zu entschuldigen.
Die deutsche Berichterstattung über furchtbare Haftbedingungen für Marco W. lässt nun in türkischen Medien die Furcht entstehen, dass ein zweiter “Midnight Express” entsteht. "Hürriyet"-Chefredakteur Ertugrul schrieb, dass nach einem Telefonat mit dem Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, seine Befürchtung über eine emotionale und aufgeheizte Berichterstattung der deutschen Medien noch zugenommen habe.
"Warum mischen sich die Deutschen ein?"
Ertugrul berichtet auch über die Stimmung in der Redaktionskonferenz, wo sehr viel über den Fall gesprochen worden sei und der einhellige Tenor war: Warum mischen sich die Deutschen in unser Justizsystem ein? Freilich keine Frage in der Runde, ob nicht angesichts der Schwächen dieses Justizsystems Einmischung sehr wohl erforderlich ist, um es zu verbessern.
Auch die islamisch gesinnte Zeitung "Zaman" schreibt, dass die deutsche Presse wenig über den vollzogenen geschlechtlichen Akt mit einem Kind schreibt, dafür aber “die Türkei anschwärzt”. "Zaman" schreibt übrigens, dass Marco wegen mutmaßlicher Vergewaltigung festgenommen worden sei, was bisher niemand außer "Zaman“ behauptet hat. “Die Begründung, warum er festgenommen wurde, ist, dass er das englische Mädchen vergewaltigt hat”, heißt es wortwörtlich. Es wird zwar deutlich, dass dies die angebliche Begründung der Festnahme ist, der fehlende Konditional führt aber zu einer bedenklich vorverurteilenden Formulierung, besonders angesichts der muslimischen Leserschaft der Zeitung.
Die Zeitung "Milliyet“ zitiert vor allem deutsche Berichte, und spricht dann von einer “Kampagne gegen die Türkei”. Man zitiert die Ratschläge der "Bild"-Zeitung an ihre Leser, wonach sich Türkeireisende so kleiden sollten wie in einem streng muslimischen Land. Frauen sollten nicht in Cafés und nicht alleine auf die Straße – zugegeben etwas merkwürdige Maßregeln in der verhältnismäßig offenen Türkei.
Das kürzlich gestartete, bereits sehr respektierte Nachrichtenportal "Gazeteport.com.tr", das über zahlreiche namhafte Autoren verfügt, titelt: “Deutschland eskaliert die Marco-Krise”. Auch hier wird (aus Berlin) berichtet, die deutsche Presse habe sich “in Antalya niedergelassen” um auch jedes kleinste Detail aufzustöbern. “Die deutsche Presse schreibt, dass Marco unter schlechten Haftbedingungen gehalten wird”, heißt es da – dabei sind sie nicht schlechter als für andere ausländische Insassen. Insgesamt ist dieser Bericht noch der ruhigste und ausgewogenste in der türkischen Presse
Die Aussagen des grünen Bundestagsabgeordneten Beck, wonach die Haftbedingungen in der Türkei sehr schlecht seien, kommentiert "Milliyet“ mit dem etwas eigentümlichen Zusatz, Beck gelte als homosexuell. Was das mit dem Fall zu tun hat, weiß nur die Redaktion.
Quelle : Der Weltspiegel online.